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Ich ging noch nicht zur Schule, als ich aus den aufgeschnappten Wörtern die Fabel unserer Besonderheit wob, während ich eine weitere Scheibe Schwarzbrot mit Schmalz oder Marmelade zwischen uns aufteilte. Auf meinem inneren Altar, den man nicht in Worte übersetzen konnte, nahmen meine beste Freundin Rita und mein Ziehbruder Hans von allen Kindern die höchsten Plätze ein, weil sie, als sie noch kein Jahr alt waren, ihre Mütter vor der Deportation nach Russland gerettet hatten. Der Krieg war kaum zu Ende, da wurden aus Râsnov über 300 Frauen und Männer zur Schwerstarbeit nach Sibirien geschickt. Nach fünf Jahren kehrten von ihnen weniger als 200 zurück. Der Anfang vom Ende, wie es mit gutem Recht hieß.
Als ich in die Schule kam, kannte ich eine Menge Grimm’scher Märchen, die Märchen von Andersen, die Streiche von Max und Moritz hatte ich auswendig gelernt, aus vor langer Zeit gedruckten Büchern in gotischer Schrift, kolorierten Fotografien, vergoldeten Buchdeckeln – Bücher, die von Haus zu Haus gegangen und im Laufe der Zeit von vielen Generationen von Kindern gelesen worden waren. Es gab auch sächsische Märchen, einige, wie ich später entdecken würde, verwandt mit den seltsamen Geschichten vom anderen Ende des Kontinents aus dem Roman des bepelzten französischen Maître Renard. Das massive Gebäude unserer Schule im Schoße der Kirchburg stammte aus dem 19. Jahrhundert. Doch die erste (deutsche) Schule in Râsnov wurde, soviel man weiß, 1510 erbaut. Wir hatten jeweils zwei Schuljahre bei einem Lehrer Unterricht: Die Deportationen hatten die Zahl der Kinder drastisch verringert, jetzt lernten hier auch ein paar rumänische Kinder, von denen ich eines war. Nachdem wir die Lektion im Lesebuch gelesen hatten (der längste Text war der über den Genossen Jossif Wissarionowitsch Stalin, dessen Name schon allein für sich eine Zeile beanspruchte), wiederholte der Lehrer mit uns alte Lieder und erzählte von den Nibelungen. Ich war überzeugt, dass das verräterische Lindenblatt in Wirklichkeit aus unseren Wäldern auf Siegfrieds Schulter gelandet war. Und irgendwo bei der alten Ziegelei, so glaubte ich, hielt er beim Jagen an, um von der Quelle zu trinken. In der Burg kannte ich alle Teerspuren aus den Kriegen mit den Türken und Tataren. Längs der Mauern fand ich außerdem Meeresmuscheln: denn hier lag einmal das sarmatische Meer der Urzeit, wurde uns gesagt. Nun sah ich in der Bârsa-Ebene nur noch das wogende Getreide. Ich bemerkte auch die Erhebung in der Mitte der Äcker, unter der sich die Ruinen römischer Festungsanlagen befanden. Auf einer Seite verschlang Efeu die Mauern der Burg, wie bei Dornröschen. Wir dachten darüber nach, was man tun könnte, damit nicht auch das Dorf mit all seinen Häusern eines Tages auf diese Weise verschwinden würde. Wir hatten ja das unbestimmte Gefühl, dass wir im Umkreis des Vertrauten, das dem Mutterleib zu gleichen schien, Zuflucht finden konnten. Das Bedürfnis nach einem Zuhause. Die im Mittelalter hier errichtete Burg zum Schutze des Landes vor den Invasionen aus dem Osten schien eine Variation jenes Schutzwalls der Berge zu sein. Wie ein Echo dieses Musters schlossen sich die Mauern auch um die einzelnen Höfe. Ein Ort mit einem Anstrich von Solidität und Endgültigkeit. Die Mauern und Fassaden der Häuser, die zu Straßenreihen geordnet standen wie das Abbild einer zusammengehörigen Gemeinschaft, mit fest ineinander greifenden Armen, einer um die Schulter des andern. Jeder auf seinem eigenen, gut eingefügten Platz. Bauwerke, in denen die Zeit stillzustehen schien. Eine kreisende Zeit der ewigen Wiederkehr, in der paradoxalen Gleichzeitigkeit zur linearen, konstruktiven Zeit der Geschichte. Ein bis vor kurzem lebendiges Konstrukt, aus dem das Leben, wie es einmal war, langsam herausfloss wie aus einer Vase, die beim Zusammenprall mit einer Epoche großer sinnloser Verschwendungen gesprungen ist. „Im Mauerkranz der Burgen starb die Zeit„*, wie das erschütternde Lamento Hans Bergers von 1995 beginnt, der ebenfalls von Râsnov in die Welt hinausging.